Von Miep Gies überrascht

Miep Gies (1945)
Miep Gies (1945)
Der Juli 1944 war ein heißer Monat und im Büro war nicht viel zu tun. Als Miep eines Tages früh mit der Arbeit fertig war, beschloss sie spontan, den Versteckten im Hinterhaus einen kurzen Freundschaftsbesuch abzustatten. Im Zimmer von Herrn und Frau Frank saß Anne emsig schreibend am Fenster. Da Miep normalerweise nie um diese Zeit ins Hinterhaus kam und Anne ganz in ihre Arbeit vertieft war, schien es, als habe sie Miep weder gesehen noch gehört. Miep drehte sich schnell um und wollte gehen, doch dann bemerkte Anne sie.

"Bei unseren vielen Begegnungen im Laufe der Jahre hatte ich Annes abrupte Stimmungswechsel oft miterlebt; sie blieb dabei aber immer freundlich. Mir gegenüber hatte sie sich nie anders als überschwänglich, bewundernd, geradezu schwärmerisch verhalten. Doch in diesem Moment nahm ich einen Gesichtsausdruck wahr, den ich bei ihr nie zuvor gesehen hatte. Einen Ausdruck verbissener Konzentration, als habe sie Kopfschmerzen. Dieser Blick durchbohrte mich, verschlug mir die Sprache. Plötzlich war es ein ganz anderer Mensch, der da schreibend am Tisch saß. Ich konnte kein Wort herausbringen, konnte mich von Annes unergründlichen Augen nicht abwenden.

Frau Frank musste mich hereinkommen gehört haben, ich erkannte ihren leisen Schritt hinter mir. Als sie schließlich zu reden anfing, merkte ich an ihrem Tonfall, dass sie die Situation erfasst hatte. Sie sprach Deutsch, was sie nur tat, wenn es schwierig wurde. Ihre Stimme klang ironisch und doch liebevoll. 'Unsere Tochter schreibt, Miep, das wissen Sie ja.'

Anne sprang auf, klappte das Heft zu. Mit einer dunklen Stimme, die ich noch nie bei ihr gehört hatte, und unverändertem Gesichtsausdruck sagte sie: 'Allerdings, und ich schreibe auch über dich.'

Sie sah mich unentwegt an. Ich meinte, irgendetwas sagen zu müssen, ; doch dann brachte ich - so nüchtern und sachlich ich konnte – nichts weiter heraus als: 'Das wäre sehr nett.'"

Miep fühlte sich äußert unbehaglich und kehrte sofort ins Büro zurück. Sie erkannte, wie ungeheuer wichtig das Tagebuch für Anne war und kam sich vor, als habe sie sich in eine sehr enge Beziehung gedrängt und eine vertrauliche Zwiesprache gestört. Als die Untergetauchten einen Monat später verhaftetet wurden, zögerte Miep daher keinen Augenblick und rettete Annes Aufzeichnungen bei der nächstbesten Gelegenheit, ehe sie den Deutschen in die Hände fallen konnten. Nicht eine Sekunde dachte sie daran, in den Tagebüchern zu lesen, sondern versteckte sie ungeöffnet in ihrer Schreibtischschublade, in der Absicht, Anne den Stapel Papier nach ihrer Rückkehr auszuhändigen. Wozu es leider niemals kommen sollte.

Zitiert aus dem Buch 'Meine Zeit mit Anne Frank : Der Bericht jener Frau, die Anne Frank und ihre Familie in ihrem Versteck versorgte, sie lange Zeit vor der Deportation bewahrte – und sie doch nicht retten konnte.' von Miep Gies in Zusammenarbeit mit Alison Leslie Gold (Frankfurt a. M. : Fischer Taschenbuch Verlag, 2009)

 
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