Der Besuch aus der Sicht von Miep Gies

Miep und Jan Gies an ihrem Hochzeitstag, 16. Juli 1941.
Miep und Jan Gies an ihrem Hochzeitstag, 16. Juli 1941.
Miep Gies äußert sich in ihrer Autobiographie wesentlich ausführlicher über den Besuch im Hinterhaus als Anne Frank in ihrem Tagebuch. Es folgen einige Erinnerungen von Miep an jene besondere Nacht vom 19. auf den 20. Oktober 1942, die sie und ihr Mann Jan im Hinterhaus verbrachten.

"Oben wurden wir freudig willkommen geheißen. 'Der letzte Arbeiter ist weg,' verkündete ich. Sofort ging es geräuschvoll zu – Stimmengewirr, Schritte, Wasserspülung, Türenklappen. Es war wieder Leben eingekehrt dort oben."

(...) Diesmal hatten Frau Frank und Margot die Regie übernommen und eine schmackhafte, sättigende Mahlzeit zubereitet.

"Die verdunkelten Fenster, das elektrische Licht und die beim Kochen entwickelte Hitze machten es mollig warm und gemütlich. Wir saßen lange bei Kaffee und Dessert und unterhielten uns. Unsere Freunde kosteten den ausgedehnten Besuch bis zur Neige aus. Anscheinend konnten sie gar nicht genug bekommen von diesem ungewohnten Genuss. Als ich da saß, wurde mir bewusst, was es bedeutete, in diesen kleinen Räumen eingesperrt zu sein. Ich bekam ein Gespür für die ohnmächtige Angst, der diese Menschen Tag und Nacht ausgeliefert waren. Sicher, es war Krieg, das galt für uns alle; aber Jan und ich konnten uns frei bewegen, nach Belieben kommen und gehen. Diese Menschen dagegen befanden sich in einem Gefängnis, einem Kerker, dessen Türen von ihnen zu verschließen waren."

(...) Während Jan und Miep bereits in Annes kleinem Zimmer im Bett lagen, machten sich die anderen zum Zubettgehen bereit. Man hörte jedes ihrer Geräusche. Außerdem schlug alle Viertelstunde die Glocke der Westerturmuhr.

"Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zumachen. Ich hörte jeden Schlag der Westerturmuhr. Ich hörte, wie es zu regnen anfing, wie Wind aufkam. Die Stille hier drinnen war erdrückend. Ich spürte es körperlich, wie die Furcht der hier zusammengedrängten Menschen sich auf mich legte, immer schwerer lastete. Wie eine Schlinge um den Hals, die sich von Minute zu Minute fester zuzog. Es war so schrecklich, dass ich nicht schlafen konnte. Erst jetzt begriff ich, was es bedeutete, untergetaucht zu sein."

Zitiert aus dem Buch 'Meine Zeit mit Anne Frank – Der Bericht jener Frau, die Anne Frank und ihre Familie in ihrem Versteck versorgte, sie lange Zeit vor der Deportation bewahrte – und sie dennoch nicht retten konnte Frank..' von Miep Gies in Zusammenarbeit mit Alison Leslie Gold (Frankfurt a. M. : Fischer Taschenbuch Verlag, 2009)

 
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