Rote Lederschuhe

Miep Gies (1945)
Miep Gies (1945)
Miep hatte oft Mitleid mit Anne. Die Zeit im Versteck war für alle Beteiligten unvorstellbar schwer und belastend, aber für Anne, die mitten in der Pubertät steckte, muss die Situation ab und zu unerträglich gewesen sein. Sie liebte die Filmstars in der Zeitschrift Cinema & Theater und stellte sich gewiss manchmal vor, wie glamourös sie selbst hätte aussehen können. Die Wirklichkeit stand in krassem Gegensatz dazu: Nicht nur waren ihre Kleider im Laufe der Zeit verschlissen, sondern auch rundum zu klein geworden. Sie wuchs aus allem heraus, und Miep war fest entschlossenr

"bei meinen Einkaufstouren etwas Passendes und zugleich Attraktives, Damenhaftes für Anne aufzutreiben. Und eines Tages geriet ich zufällig an an genau das Richtige: ein paar hochhackige rote Lederpumps. Getragen, aber gut erhalten. Ich zögerte wegen der Größe: Es wäre zu ärgerlich, wenn sie ihr nicht passten. Doch dann dachte ich: Riskier's! Kauf sie! Ich hielt sie hinter meinem Rücken, als ich sie nach oben brachte, auf Anne zuging und sie ihr hinstreckte. Noch nie habe ich jemanden so glücklich gesehen, wie Anne es an jenem Tag war. Gleich zog sie die Schuhe an, und sie passten wie angegossen.

Danach wurde sie ganz still; sie hatte noch nie hohe Absätze getragen. Etwas wacklig, an der Oberlippe kauend, durchquerte sie entschlossen das Zimmer, wieder zurück, danach noch einmal. Sie ging hin und her, vorwärts und rückwärts, und jedes Mal mit festeren Schritten."

Zitiert aus dem Buch 'Meine Zeit mit Anne Frank : Der Bericht jener Frau, die Anne Frank und ihre Familie in ihrem Versteck versorgte, sie lange Zeit vor der Deportation bewahrte – und sie doch nicht retten konnte.' von Miep Gies in Zusammenarbeit mit Alison Leslie Gold (Frankfurt a. M. : Fischer Taschenbuch Verlag, 2009)

 
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