Zwei Perspektiven

Anne Frank an ihrem Schreibtisch zu Hause am Merwedeplein, 1941
Anne Frank an ihrem Schreibtisch zu Hause am Merwedeplein, 1941
Das Anne Frank Tagebuch (Frankfurt a. M. : Fischer Taschenbuch Verlag, in verschiedenen Ausgaben erhältlich) enthält alle Aufzeichnungen, die Anne Frank zwischen dem 12. Juni 1942 und dem 1. August 1944 verfasste. Annes Tagebuch bietet einen Einblick in die Gedankenwelt eines ganz normalen jungen Mädchens, das in eine außergewöhnliche Lage geriet: Zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester, einer weiteren Familie mit einem Sohn in ihrem Alter sowie einem älteren Zahnarzt lebte sie zwei Jahre versteckt im Untergrund, in der Hoffnung, dem grausamen Schicksal zu entgehen, das die Nazis den Juden zugedacht hatten. Anne Frank beschreibt auf eine oft humorvolle, manchmal rührende Art und Weise ihre Sympathien&euml.n; und Antipathienën für ihre Mitbewohner, ihre Ängste, ihre Zukunftspläne, die Geschehnisse im Hinterhaus und ihre – notgedrungen eingeschränkte – Sicht auf die Ereignisse in der Welt außerhalb ihres beengten Lebensraums. Die Versteckten waren von einer kleinen Gruppe Getreuer abhängig, die sie mit Nahrungsmitteln und anderen notwendigen Dingen versorgten, aber auch mit Informationen über den Verlauf des Krieges sowie dringend benötigter Abwechslung, sozusagen frischer Luft von draußen.

Miep Gies und ihr Mann Jan gehörten zu dieser kleinen Gruppe von Helfern. In den 1980-er Jahren brachte Miep schließlich ihre Erinnerungen zu Papier, unterstützt von der amerikanischen Autorin und Journalistin Alison Leslie Gold. Und so erschien 1987, vierzig Jahre nach der ersten Ausgabe der Tagebücher, ihre Autobiographie, zunächst auf Englisch, dann auch auf Niederländisch und Deutsch: Meine Zeit mit Anne Frank : der Bericht jener Frau, die Anne Frank und ihre Familie in ihrem Versteck versorgte, sie lange Zeit vor der Deportation bewahrte – und sie doch nicht retten konnte (Frankfurt am Main : Fischer Taschenbuch Verlag, 2009). Darin beschreibt Miep Gies den um sich greifenden Faschismus im Europa der 1930-er Jahre, die unmittelbaren Auswirkungen der deutschen Besatzung auf das alltägliche Leben in den Niederlanden und ihr wachsendes Gefühl der Ohnmacht angesichts der immer einschneidenderen Maßnahmen, die den Juden das Leben zunehmend erschwerten. Miep Gies überlegte daher nicht lange, als Otto Frank sie bat, ihm und seiner Familie dabei zu helfen, sich im Hinterhaus seines Büros an der Prinsengracht 263 zu verstecken.

Miep Gies lesend am Tisch, Juni 2001. Foto: Bettina Flitner.
Miep Gies lesend am Tisch, Juni 2001. Foto: Bettina Flitner.
Miep Gies kannte die Familie Frank bereits seit 1933, als sie im Büro von Otto Frank eine Stelle als Sekretärin antrat. Otto Frank und seine Frau Edith luden Miep und ihren Mann Jan regelmäßig ein, sie an den Samstagnachmittagen zu besuchen, an denen sich auch andere Freunde und Bekannte zum lockeren Beisammensein bei ihnen einfanden. Dadurch lernten Miep und Jan die Familie allmählich näher kennen, und es war nicht zuletzt ihr Gefühl der Verbundenheit mit der Familie Frank, welches Miep Gies zum Schreiben ihres Buches bewog. Obwohl andererseits stets eine gewisse Distanz zwischen ihr und den Franks blieb, weil Miep eben nur eine Besucherin und keine Bewohnerin des Hinterhauses war.

Bei dem Buch von Miep Gies handelt es sich um eine Ergänzung zu den Tagebüchern von Anne Frank. Annes Aufzeichnungen über ihre Zeit im Versteck beginnen an dem Tag, als sich die Familie ins Hinterhaus zurückzieht und enden drei Tage, bevor die Bewohnter verraten und verhaftet wurden. Miep Gies dagegen beschreibt auch die Zeitspanne vor dem Rückzug ins Versteck und berichtet über das traurige Schicksal der Bewohner nach ihrer Verhaftung. Sie schildert die Ereignisse im Rückblick und vermag dadurch bestimmte Elemente in einem größeren Zusammenhang zu betrachten oder den Lesern einen Überblick über die Geschehnisse zu vermitteln. Anne dagegen betrachtete die Situation aus ihrem unmittelbaren Erleben heraus, ohne die Möglichkeit der räumlichen und zeitlichen Distanz. Miep Gies berichtet außerdem darüber, wie sie Annes Aufzeichnungen im Sommer 1945 mit den Worten: „Hier ist das Vermächtnis Ihrer Tochter Anne an Sie“ Otto Frank übergab und was im Folgenden geschah.

Ungeachtet der unterschiedlichen Betrachtungsweise finden sich in den Aufzeichnungen von Anne Frank und Miep Gies jedoch auch zahlreiche Überschneidungen. Beide berichten häufig über dieselben Geschehnisse, Situationen und Menschen, jede jedoch aus ihrer persönlichen Perspektive heraus. Weiter unten finden Sie einige Passagen aus den Büchern von Anne Frank und Miep Gies, die sich ergänzen und dadurch einen noch intensiveren Blick auf die Vergangenheit ermöglichen.

Am Abend des 19 . Oktober 1942, einem Montag, verbrachten Miep und Jan Gies auf Einladung der Untergetauchten eine Nacht im Hinterhaus. Lesen Sie hier die Beschreibungen dieses Besuchs aus der Sicht von Anne Frank und Miep Gies. Mehr

Wer waren die acht Versteckten im Hinterhaus? Anne beschreibt in ihrem Tagebuch regelmäßig ihre Mitbewohner und deren Verhalten, mal recht drastisch, mal subtiler, und schildert dabei auch, wie sie sich selbst sieht. Miep Gies beschreibt die Untergetauchten ebenfalls. Lesen Sie hier die Personenbeschreibungen aus der jeweiligen Perspektive von Anne Frank und Miep Gies.

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Anne Frank erhielt ihr erstes Tagebuch als Geschenk zu ihrem dreizehnten Geburtstag und vertraute ihm noch am selben Tag, dem 12. Juni 1942, zum ersten Mal ihre Gedanken an. Damals wohnte sie noch am Amsterdamer Merwedeplein. Nur knapp einen Monat später lebte sie bereits versteckt im Hinterhaus, wo es nicht immer leicht war, unbeobachtet Tagebuch zu führen.

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Sowohl Anne als auch Miep waren zwar nicht in den Niederlanden geboren, aber dort aufgewachsen. Anne stammte aus Deutschland und war mit vier Jahren nach Amsterdam gezogen. Miep war bereits dreizehn Jahre vor ihr als Elfjährige aus Österreich gekommen. Beide hatten sich in den Niederlanden rasch eingelebt, hatten die Sprache erlernt, waren zu Schule gegangen und hatten Freundschaften geknüpft. Beide behielten zunächst die Staatsbürgerschaft ihres Vaterlandes, wären aber lieber Niederländerinnen geworden.

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Die Untergetauchten versuchten, ihren Helfern gegenüber stets so heiter und ausgeglichen wie möglich zu wirken. Dennoch gab es oft Anlass zur Klage, aber nie sollten ihre Beschwerden ihren Helfern zu Ohren kommen.

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Nicht nur bezüglich ihrer Sicherheit und ihrer Versorgung waren die Versteckten von ihren Helfern abhängig, sondern auch, was Neuigkeiten anging. Zwar hatten sie die Möglichkeit, abends im Privatkontor BBC zu hören, aber was ihre Freunde von den Geschehnissen draußen erzählten, bewegte sie noch am meisten.

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Je mehr Zeit verstrich, desto verschlissener und abgetragener wurde die Kleidung der Versteckten. Anne wuchs außerdem aus ihren Sachen heraus, alles wurde ihr zu kurz und zu eng, die Schuhe passten nicht mehr. Und das ausgerechnet in einem Alter, in dem sich junge Mädchen ihres Äußeren bewusst werden und gerne hübsch und erwachsen aussehen wollen. Miep nahm sich Annes Probleme besonders zu Herzen und begab sich auf die Suche nach Kleidung, in der Anne sich gefallen würde.

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